„Meine politische Hauptarbeit war immer: Freiheit und Menschenrechte in Osteuropa"

Porträtfoto von Milan Horáček
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Milan Horáček Mitte der 80er Jahre

Milan Horáček ist in der CSSR aufgewachsen und nach dem sowjetischen Einmarsch in den Westen geflüchtet. In den 1970er Jahren war er einer der Sprecher des tschechischen Exils. Als Bundestags- und Europaabgeordneter der Grünen hat er sich für Freiheit und Menschenrechte in Osteuropa eingesetzt. Das Archiv Grünes Gedächtnis hat mit ihm gesprochen.

Milan, Du bist in Nord-Mähren geboren, ein unmittelbares Nachkriegskind mit einer deutschen Mutter und einem mährischen Vater. Fühlst Du Dich daher - auch politisch - in mehreren Identitäten und Ländern beheimatet?

Milan Horáček: Ja, in meiner Familiengeschichte liegen sicherlich die Wurzeln für das, was ich mache. Ich bin am 30. Oktober 1946, in Velké Losiny (Groß Ullersdorf) geboren, in der Nähe der Kreisstadt Šumperk (Mährisch-Schönberg), ehemals Sudetenland. In diesem Gebiet lebten durch die Jahrhunderte bis in die jüngste Vergangenheit verschiedene Nationalitäten, also Slowaken, Polen, Ungarn, Griechen, aber natürlich auch Deutsche. Auch nach dem Krieg waren in der Stadt noch immer genug Deutsche. Leider habe ich aber kein Deutsch gelernt, weil es verpönt war, teilweise sogar verboten.

Wurdest Du oder Deine Familie angefeindet wegen Deiner deutschen Mutter?

Die Deutschen, die nicht vertrieben worden sind, wurden einiger Rechte, zum Beispiel eines Teils ihrer Rentenansprüche, beraubt. Aber das ist eine sehr komplizierte Geschichte, die uns zu weit weg führen würde. Ich denke, ich - und auch meine jüngeren Schwestern - hatten eine relativ gute Kindheit. Es gibt ja immer zwei Seiten. Ich habe von den verschiedenen Identitäten in unserer Familie auch profitiert: Meine Mutter hörte oft österreichische Sender im Radio. Dadurch wusste ich, dass irgendwo da draußen auch eine andere, eine freiere Welt existiert.

Was bekamst Du zum Beispiel mit?

Verschiedene Dinge, nicht nur durch die Familie, auch durch die Nachbarschaft. Schon als Junge war ich skeptisch gegenüber der sozialistisch-kommunistischen Doktrin, die uns in der Schule vorgesetzt wurde. Ich wusste von den Schauprozessen in den 50er Jahren, vom Slánský-Prozess, wo unter den 13 zum Tode Verurteilten etwa zwölf Juden waren. Und ich habe 1956 über Radio gehört, was in Ungarn passiert ist. Ich will das jetzt nicht überinterpretieren, aber in unserer Familie gab es einen Drang zur Freiheit. Außerdem haben wir zu Hause viel gelesen. Mein Vater hatte immer von der Bücherei oder von Freunden ausgeliehene Bücher, viele Geschichtsbücher, Berichte von Entdeckungsreisen. Wir hatten keinen Fernseher und abends, vor allem an den langen Winterabenden, wurde gelesen.

Dein Vater war selbstständig und hatte eine eigene Gärtnerei?

Er war gelernter Gärtner und kurze Zeit auch Gärtnereimeister, das heißt, er führte seinen eigenen Betrieb. Soweit ich weiß, ist dieser jedoch schon 1948 requiriert worden. Danach arbeitete er in einer Fabrik wie meine Mutter auch. Doch der Gärtner kam bei ihm immer durch. Zu Hause hatte er eine Sammlung von verschiedenen Kakteen und hinterm Haus, mitten in der Stadt, einen Garten mit zwanzig verschiedenen Obstbäumen, wo er auch Frühbeete bestellte. Wir hatten vom Frühjahr bis zum Herbst alles, von Radieschen bis zu den Gurken.

Waren Deine Eltern in der Partei?

Nein, sowohl mein Vater wie meine Mutter waren nie in der Partei. Das liegt sicherlich auch daran, dass ein etwas weiter entfernter Verwandter der Großfamilie in den 50er Jahren direkt ermordet wurde. Es hieß, er habe Selbstmord begangen, aber die Tante ließ den Sarg gewaltsam öffnen und man sah, dass ihm die Fingernägel ausgerissen worden waren, klare Folterspuren. Ich war niemals in der Partei, auch nicht in der Parteijugend oder bei den Pionieren. Das bekam ich aber auch in der Schule zu spüren...

Inwiefern?

Ich hatte über die ganze Schulzeit eigentlich sehr gute Zeugnisse, immer eine Auszeichnung, nie eine schlechtere Note als Zwei. Bis zur neunten Klasse. Da gab es einen Konflikt mit einer Mathematiklehrerin und auf dem Halbjahreszeugnis stand plötzlich eine Vier. Meine Mutter ging zum Direktor der Schule und erreichte, dass ich eine unabhängige Prüfung ablegen konnte. Am Ende bekam ich eine Zwei in Mathematik. Der Direktor riet meiner Mutter, sie solle mich aufs Gymnasium, damals hieß das Oberschule, schicken. Trotzdem wurde ich mit nicht mal 15 in die Lehre in der Fabrik, in der mein Vater arbeitete, geschickt.

Was war das für ein Betrieb?

Ein metallurgischer Betrieb, der Teile für Transistorradios und später für die ersten Fernseher produzierte. Es gab Hochöfen mit bis zu 1.800 Grad Hitze, wir arbeiteten auch Siemens-Monteuren zu. Wir waren drei Lehrlinge in dieser Lehrwerkstatt, die Elektromonteur lernten, und hatten eine ziemlich harte Sechs-Tage-Woche: drei Tage in der Woche Schule, drei Tage auf dem Betrieb. Zur Berufsschule mussten wir mehr als eine halbe Stunde fahren und dann noch ein gutes Stück gehen. Wir drei absolvierten die Lehre aber sehr gut. Mit dem einen, František, bin ich bis heute befreundet. Nach 68 sind wir alle drei in Deutschland gelandet.

Wann habt Ihr die Lehre abgeschlossen? Warst Du zu dieser Zeit politisch interessiert oder gar aktiv?

Es müsste 1964 gewesen sein, ich war 18. Mein Freund und ich haben danach in Ostrava in einem Hüttenwerk gearbeitet. Er wurde dann zu den Grenzsoldaten eingezogen, ich dagegen als „politisch Unzuverlässiger“ zu den Bausoldaten.

Warum?

Da kommen verschiedene Sachen zusammen. Mein familiärer Hintergrund, meine Begeisterung für die westliche Musik. Ich war damals langhaariger Schlagzeuger in einer Beatgruppe. Es gab aber auch Auseinandersetzungen auf der Arbeitsstelle. Wie ich später herausfand, führte der tschechische Geheimdienst, ähnlich wie die Stasi, eine Akte über mich. Zudem war mein Vater Baptist...

… die Baptisten wurden als protestantische Sekte beargwöhnt...

Ich soll katholisch getauft sein, was die Pfarrbücher aber nicht hergeben. Aber mein Vater ging, als ich ein kleiner Junge war, zur baptistischen Gemeinde. Deshalb gab es auch für mich die Qualifizierung: Herkunft, Familie - alles schlecht.

Welche Konsequenzen hatte das für Dich?

Statt zum normalen Militärdienst kam ich zu einer Art Strafbataillon. Wir machten zwar auch ein paar Mal Schießübungen, aber ansonsten war unsere Aufgabe, an verschiedenen Baustellen zu arbeiten.

Was hast Du dort erlebt? Was waren dort für Leute?

Ich war einer der Jüngsten in dieser Kompanie. Es gab mehrere „politisch Unzuverlässige“ wie mich, die meist wegen ihrer Familiengeschichte so eingestuft waren und schon ein Studium hinter sich hatten. Einige hatten zum Teil schon hohe Gefängnisstrafen hinter sich als Jugendliche, denn es gab auch Schwerverbrecher und Vergewaltiger in unserer Truppe, die hier formal ihre Militärzeit abdienten, in Wahrheit aber umsonst für den Staat arbeiten mussten. Es gab aber auch Zahlungen, wenn wir die Norm erfüllten.

Wie bist Du ihnen begegnet?

Obwohl ich wusste, das ist ein Mörder oder ein Schwerverbrecher, habe ich mich ihnen gegenüber normal verhalten. Wir waren 19 Mann auf einem Zimmer, eine Holzbaracke mit Zwei- oder sogar Dreistock-Betten übereinander und kaum Raum dazwischen. Duschen konnte man jeden Tag, aber mit kaltem Wasser. Einheizen und warmes Wasser gab es nur am Wochenende. Der Rhythmus war sechs Tage Arbeit, nur am Sonntag hatten wir frei. Keine Lagerzustände, aber es war schon sehr hart.

Wie habt Ihr das akzeptiert?

Im Nachhinein wundere ich mich selbst. Es war ja wie Zwangsarbeit, aber man kann das nicht aus heutiger Sicht sehen, sondern im Kontext dieser Diktatur, die zwar nicht ganz so offen und direkt gewalttätig und brutal war wie die der Nationalsozialisten, aber mit Abstufung durchaus als eine Art Mittelding zwischen einem totalitären Regime und einer Diktatur zu beurteilen ist.

Gab es keinen Widerstand?

Man hat funktioniert. Wir haben uns nur einmal aufgelehnt, weil wir die ganze Woche nur verschiedene Hülsenfrüchte zu essen bekamen. Eines Tages sind die schweren Jungs einfach nicht vom Mittagessen in die Arbeit gegangen, die Baustelle lag am Rande eines Kampftruppengebiets und Kasernen. Binnen einer Stunde kamen dann mehrere Autos mit einem Major an dieser Baracke an, in der wir sitzen geblieben waren. Sie fragten, was denn los sei, und wir beschwerten uns wegen des Essens. Danach bekamen wir besseres Essen, wohl von den Kampftruppen nebenan aus der Kantine geliefert. Am nächsten Tag traten wir wieder zur Arbeit an.

Trotzdem saßest Du doch noch im Militärgefängnis – wie ist das passiert?

Ein wenig später besuchten mich einige unserer Offiziere auf der Baustelle und bestellten mich noch mit einem anderen in ihr Büro ein. Als wir dort ankamen, stand schon ein Wagen bereit, der uns in ein Militärgefängnis brachte.

Was wurde Euch konkret vorgeworfen?

Ich weiß es selbst nicht. Im Militärgefängnis habe ich ein paar Wochen auf eine Anklage gewartet, dann wurde ich einfach entlassen und meine Militärzeit endete ohne irgendeine Untersuchung. Später las ich in den Papieren, dass der Major, der den Streik bei uns beendet hatte, mir ein positives Gutachten ausgestellt und erklärt hatte, dass ich mich korrekt verhalten habe. Man muss dazu sagen, das alles geschah im Jahr 1967. Die harte stalinistische Zeit war bereits vorbei, gesellschaftspolitisch tat sich einiges, ökonomisch gab es in der ČSSR ein Team, das über eine Art Dritten Weg zwischen Sozialismus und Marktwirtschaftskapitalismus nachdachte.

Wie ging es für Dich nach dem Militär weiter?

Milan Horáček: Ich ging zunächst zurück in meinen metallurgischen Ausbildungsbetrieb nach Šumperk, weil ich aber merkte, dass ich im Straßenbau mehr verdienen kann, heuerte ich in einer staatlichen Straßenbaufirma an, die im Altvatergebirge Straßen erneuerte und baute. Im Frühjahr 1968 kam ich mehrmals nach Prag. In meiner Erinnerung ist das ein sehr schöner Frühling, man diskutierte sehr offen, an der Universität traf ich einmal auf Rudi Dutschke, ohne dass ich natürlich wußte, wer das war. Also ich habe voll gelebt...

...bis in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 die Truppen von fünf Warschauer-Pakt-Staaten in die damalige CSSR einrückten.

Ja, dann kam der 21. August. Ich war aber nicht in Prag. Ich stand morgens früh um 4.00 Uhr auf und schmiss die Maschinen in dem Steinbruch an, wo die Anlage für den Straßenbelag stand, den wir fertigten. Als ich das erste Auto mit dem Gemisch aus Asphalt, Sand und Steinen rausgeschickt hatte und gerade das zweite vorbereiten wollte, kam der erste Wagen zurück.

Der Fahrer erzählte uns, dass die Straße, die wir bauten, von Panzereinheiten der polnischen und sowjetischen Armee kaputt gefahren worden war. Gleichzeitig kam der Vorarbeiter, der ein ehemaliger Professor der Technischen Hochschule in Brünn war, - es gab bei uns einen ganzen Trupp von Doktoren und Professoren, die alle bei dieser Straßenbaufirma gearbeitet haben – und schrie: „Diese Hurensöhne haben uns okkupiert!“ und weinte fürchterlich. So hatte ich ihn nie erlebt. Ich war damals 22 und bei so einer Respektsperson war das schockierend.

Bald darauf, Anfang September 68, bist Du geflohen. Wie kam es zu dem Entschluss?

In meiner Zeit beim Militär war meine Mutter mit meinen Schwestern zu meiner Tante im Hessischen zu Besuch gefahren und einfach in Steinau, dem Märchendorf, das man durch die Brüder Grimm kennt, geblieben. Nur mein Vater war zurückgeblieben, damals hatten sich meine Eltern schon getrennt. Ihre Ausreise war im Jahr 66, als es lockerer war, obwohl man auch 66 nie ganze Familien zu Verwandten reisen ließ. Meine Schwestern schickten mir damals aus Deutschland diesen Hit von Drafi Deutscher: „Marmor, Stein und Eisen bricht“. Ich spielte ihn oft und träumte von dieser anderen, sehr entfernten, fast unerreichbaren Welt. Das heißt, ich hegte schon die ganze Zeit den Wunsch, tatsächlich frei zu sein. Stattdessen kamen die Okkupation und alles, was man damit realisierte.

Wie bist Du dann letztlich geflohen?

Mein Freund, der an der Grenze bei Brno nah zu Österreich und Wien gedient hatte und sich da gut auskannte, bot mir an: „Wenn Du willst, werde ich Dich über die Grenze führen.“ Nachdem Dubček und die Führung verhaftet waren und diesen schändlichen Vertrag über die Stationierung der „befreundeten Truppen“ in Moskau unterschrieben hatten, beschloss der Freund ebenfalls mitzukommen. Das war keine große Überwindung mehr, weil wir kapierten, dass wir tatsächlich in einem großen Gefängnis saßen. Jedenfalls sind wir zehn Tage später von Nordmähren aus nach Südmähren zur Grenze...

War die Grenze ebenso stark gesichert wie in der DDR?

Logisch, an dieser Stelle aber war sie nicht ganz so martialisch, weil entlang der Straße von Wien nach Brno auch Touristen in Bussen unterwegs waren. Deswegen hatte man diese an Konzentrationslager erinnernde Zone mit Stacheldraht in den Jahren 65 und 66 abgebaut, nachdem die Touristen sie immer gefilmt hatten. Trotzdem gab es dreifach Zäune an der Grenze, auch eine Einheit mit Hundeführern. Zwischen dem ersten und zweiten Zaun war eine Art breiter Sandweg, der immer geharkt wurde, damit man Spuren sofort erkennen konnte. Damals gab es noch keine Infrarotgeräte. Wir robbten uns an den Zaun, drüber und dann hieß es: laufen, laufen, laufen. Das war das Einzige, auf das mein Freund mich nicht vorbereitet hatte, dass wir noch kilometerweise weiter laufen mussten in das österreichische Gebiet. Ich war vollkommen fertig. Er war besser trainiert.

Ihr seid nach Wien und weiter per Anhalter Richtung Bundesrepublik Deutschland.

Wir sind zur österreichisch-bundesrepublikanischen Grenze getrampt. Die Österreicher winkten uns durch, aber die Deutschen hielten uns an. Wir sagten, wir sind Flüchtlinge und meine Mutter lebt in Steinau. Allerdings konnten wir uns wegen der Sprache nicht richtig verständlich machen. Die Grenzer wollten dies überprüfen. Uns wurde erklärt, dass am nächsten Morgen ein Sudetendeutscher Dienst hatte, der Tschechisch kann. Wir konnten in einer offenen Zelle übernachten. Am Abend brachten sie uns ein Tablett mit Essen, echtem Milchkaffee und einem Playboyheft. Am nächsten Morgen schickte uns der sudetendeutsche Beamte, nachdem er kurz nachgefragt hatte, mit einem Papier weiter Richtung Nürnberg, wo es ein Flüchtlingslager gab. Wir trampten aber bis nach Steinau.

Wie ging es dann mit Dir weiter?

Wir kamen mitten in der Nacht an, klingelten und meine Mutter und meine Schwestern kamen uns weinend entgegen. Wir aßen Würstchen und am zweiten oder dritten Tag fingen wir bereits in der Polstermöbelfabrik an, die genau gegenüber von dem Haus meiner Mutter lag. Alles lief ziemlich problemlos. Wegen meiner Mutter wurde ich auch bald darauf eingebürgert. Aber auch František, der keine deutschen Vorfahren hatte, bekam später die deutsche Staatsangehörigkeit.

Was führte Dich schließlich nach Frankfurt?

Milan Horáček: Nach einem halben Jahr Arbeit bei dieser Polstermöbelfabrik, war ich ein Jahr auf einer Förderschule, wo ich etwas Deutsch gelernt habe.Später bewarb ich mich als Elektromonteur bei den Farbwerken Hoechst in Frankfurt.

Lange bliebst Du aber nicht bei Hoechst. Du bewarbst Dich kurz darauf bei der IG Metall, wieso?

Ich war nur ein paar Monate bei den Farbwerken Hoechst. Dann suchte eine Halbtagsarbeit, damit ich am Abendgymnasium anfangen konnte. Ich bekam einen Job als Aushilfe in der Redaktion vom „Gewerkschafter“. Zu dieser Zeit war Jacob Moneta der Chefredakteur und Heinz Brandt war einer der Redakteure. Mein Job beschränkte sich aber auf verschiedene redaktionelle Aushilfsarbeiten. 1972 begann ich das Abendgymnasium in Frankfurt, wechselte aber nach einem Jahr auf das Seminar für Politik und habe 1975, glaube ich, an einem Gymnasium in Gießen die Hochbegabtenprüfung bestanden, die mich zum Studium berechtigte.

In Frankfurt begann ich in dem Exilverein „Wege 68“ mitzuarbeiten und später bei dem Exilblättchen „Frankfurter Kurier“. 1974 übernahm ich die Herausgabe der deutschen Ausgabe der Zeitschrift Listy-Blätter, bis die Redaktion 1979 nach Köln gegangen ist. Außerdem habe ich die Buchhandlung Dialog mitgegründet, die die ganze osteuropäische Dissidenz-Literatur geführt hat. Für die Listy-Blätter haben wir bei KD Wolff im Verlag Roter Stern, später bei Daniel Cohn-Bendit beim Pflasterstrand die Vorlagen erstellt und die Zeitschrift im Druckladen gedruckt.Wir haben auch viel Material in die DDR und nach Prag geschmuggelt...

Wie?

Auf unterschiedlichen Wegen. Mit meinem Freund bauten wir mehrere Autos um, so dass man immer gut zwei Koffer Materialien unterbringen konnte. Wir organisierten Fahrten nach Prag, auch in die DDR, bei denen Material rein- oder auch rausgeschmuggelt wurde. In Frankfurt lebte ich in einer großen Wohngemeinschaft mit sechs Zimmern und einem großen Vorraum. Ein Zimmer bewohnte Rudi Dutschke, wenn er von Dänemark nach Deutschland kam...

...warst Du Dutschke nicht auch schon in Prag begegnet? Er war ja im August 68 da, wie auch Heinrich Böll...

Damals hatte ich das gar nicht realisiert. Erst im Nachhinein stellte ich fest, dass der Rudi mit Freunden da war. Jedenfalls gibt es zwischen uns verschiedene Querverbindungen, die dann bei mir dazu führten, dass ich 1973 in Achberg bei dem Internationalen Kongress dabei war.

Ja, gehen wir nochmal zu den Anfängen der 70er Jahre und zur Arbeit des Internationalen Kulturzentrums Achberg, dessen politischer Flügel bei den Grünen "Achberger Kreis" getauft wurde. Wer war denn da aus dem Westen dabei?

Das kann ich aus dem Kopf jetzt nicht sagen. Wichtig war, dass direkt und indirekt die 68er des Westens mit den Reformern, die nach 68 aus Prag, Warschau oder Budapest geflohen waren, zusammenkamen. In Achberg trafen sich die relevanten Kräfte des Prager Frühlings wie Ota Šik, Jiri Pelikan und Eugen Löbl mit Vertretern des anthroposophischen Sozialimpulses Rudolf Steiners und kritischen Geistern des Westens, also Politikern, Künstlern, linken SPDlern, Gewerkschaftlern, denen Prag 1968 wichtig war. Von westlicher Seite weiß ich zum Beispiel, dass der von den Nazis verfolgte Zukunftsforscher und Hochschullehrer Ossip Flechtheim aus Berlin dabei war. Das Ganze organisierte Wilfried Heidt. Und in Achberg arbeitete auch Joseph Beuys mit.

Der historische Versuch dieser Jahre bestand darin, den Prager „Dritten Weg“ als eine Alternative zu Kapitalismus und Staats-Sozialismus auf der ganzen Welt fortzuentwickeln. Was habt Ihr damals unter dem Stichwort Dritter Weg diskutiert?

Das Modell war, sich vom Kapitalismus und seinem Gewinnstreben zu lösen, aber nicht zurück zum Kommunismus zu gehen, sondern die Individualität der Menschen zu erhalten. Es galt also einen Dritten Weg jenseits von Kommunismus und Kapitalismus zu finden, bei dem an erster Stelle immer die Freiheit und Menschenrechte stehen, aber dennoch die Gemeinschaft und die Notwendigkeit anerkannt wird, eine gerechtere, bessere Gesellschaft aufzubauen.

Aber diskutiert wurde doch eher ein sozialistischer Weg.... So jedenfalls habe ich es damals verstanden.

Nein, da würde ich widersprechen. Ich verstand es so, dass der Dritte Weg sich mehr an den kapitalistischen Weg anlehnt. Das heißt marktwirtschaftlich, aber nicht marktwirtschaftlich im Sinne von Banken- und Zinswirtschaft. Ich würde sagen, dieser Dritte Weg, vereinfacht, besteht aus 60 % Kapitalismus und nur 40 % Sozialismus. Ich war immer eher zu 60 % sozialistisch oder sagen wir eher links-liberal, sicher nicht links-total, weil ich die Erkenntnis von zu Hause mitgenommen hatte, dass nicht nur die individuelle Freiheit, aber auch die kollektive Freiheit sehr, sehr wertvoll ist.

Noch eine Frage: Wie waren die Bezüge zu dem damals aufkommenden Eurokommunismus? Oder ist das eine ganz getrennte Geschichte?

Den Eurokommunismus habe ich real erlebt, als Rudi Dutschke und ich 1976 in Rom waren mit Ottmar Schreiner, der uns die Reise finanziert hatte. Ottmar Schreiner war damals stellvertretender Juso-Vorsitzender. Sowohl die italienischen Kommunisten wie auch etwa die spanischen und französischen bewegten sich schon eurokommunistisch. Sie kapierten, dass diese osteuropäische Idee - nicht erst nach 68, sondern schon mit all diesen Zwischenstationen 53 Ostberlin, 56 nicht nur Ungarn, aber auch teilweise in Polen, und 68 dann in Prag - eine Möglichkeit bot, sich innerhalb der pluralistischen parlamentarischen Systeme Westeuropas demokratisch und gerecht zu entwickeln. Die Erkenntnis dieser eurokommunistischen Linie, die Rudi Dutschke prägte und die er auch immer wieder bei seinen Auftritten vorbrachte, war: „Wir dürfen nicht mit einem Bein in Moskau oder mit dem anderen Bein in Peking stehen. Wir müssen mit beiden Beinen hier stehen.“

Die konkreten Erfahrungen von Faschismus, Stalinismus und Diktatur waren bei den Eurokommunisten ja noch sehr präsent.

Ja, deshalb ist die Freiheit, die nicht beschränkte Freiheit eines anderen, ihnen wichtiger als alles andere. Und das ist auch Teil der eurokommunistischen Linie. Da konnten sie auf keinen Fall auf die Sowjetunion zurückgreifen. Spätestens in den 30er Jahren, als Stalin seine ganze Generalität umbringen ließ, Hunger und Terror herrschten, war dieses sowjetische Gesellschaftsmodell verbraucht. Ein Modell, in dem die Grundfreiheiten beseitigt werden, kann nicht die Fantasie, kann nicht die kreativen Potenziale der Gesellschaft entfesseln, so dass sie sich nach vorne bewegt.

In der Konsequenz orientieren sich die Eurokommunisten dann gen Brüssel und sahen dort ihre Zukunft. Das ist ja ein kompletter Systemwechsel. Bis Anfang der 70er Jahre sind die kommunistischen Parteien nicht mit ihren Abgeordneten ins Europaparlament gegangen. Sie haben die Plätze leer gelassen.

Sie alle trugen im kollektiven Gedächtnis die faschistische Zeit und die Erfahrung, dass sie nie in der Lage sind, trotzdem dass der kleine Mann oder das Volk die Mehrheit hat, zu gewinnen. Sie gewinnen zwar auf Regionalebene oder auf Kommunalebene und es gibt große Städte, wo auch Kommunisten den Bürgermeister stellen, aber sie haben nicht die Zentralgewalt. Ich kann das jetzt nicht genauer beschreiben mit dem Eurokommunismus, weil meine Hauptarbeit Anfang der 70er Jahre in der Exilarbeit lag, unsere Arbeit gegen das, was in Prag und in der Tschechoslowakei 68 und danach passiert war.

Wie sah Deine politische Exilarbeit konkret aus?

Ich organisierte Solidaritätsveranstaltungen für politische Gefangene, nicht nur in der Tschechoslowakei, auch im übrigen Osteuropa. Ich habe Dutzende Veranstaltungen in Frankfurt organisiert, aber auch in anderen Städten. Das heißt, meine Arbeit war immer, grob gesagt: Freiheit und Menschenrechte in Osteuropa. Diese Arbeit stand bei mir an erster Stelle, nicht nur deutschlandweit, auch europaweit.

Dadurch kam ich in Italien, Dänemark, Frankreich und Holland herum und in Kontakt mit den verschiedensten sozialen Bewegungen der 70er Jahre. Es kamen immer neue Verbindungen hinzu, zu Rudi Dutschke und Heinrich Böll – auf unterschiedlichen Ebenen. Heinrich Böll pflegte gute Freundschaften zu verschiedenen Sozialdemokraten. Die erste Wahlkampfunterstützung machte er später für die Grünen, das wurde nie groß thematisiert. Aber für uns war das eine Stärkung.

Bevor wir auf die Grünen zu sprechen kommen, Du hast ein paar Namen genannt. Mich würde interessieren: Wie bist Du Beuys begegnet? War der auch 73 in Achberg? Wie gut kanntet Ihr Euch?

Ich traf ihn durch die Exilarbeit. Er hatte mir seinen Jaguar zum Umbau angeboten, doch ich lehnte ab, weil es zu auffällig war, Material in einem Jaguar über die Grenze zu schmuggeln. Selbst wenn man ihn umspritzte, so viele Jaguars gab es nicht. Wir bauten dann einen alten VW-Bus zu einer Art kleinen Caravan um, in dem man übernachten konnte. Dieser wurde dann immer umgespritzt. Die Fahrten gingen mal über Österreich, mal über Westdeutschland. Aber zurück zu Beuys: Es gab eine Zeit, in der ich sehr intensiv und teilweise wochenlang mit ihm zu tun hatte, zum Beispiel während der Documenta 77. Er half uns auch finanziell sehr.

Wie war Beuys als Mensch?

Er war faszinierend auf sehr vielfältige Art und Weise. Man konnte sich mit ihm über alles Mögliche verständigen. Manchmal hielt ich ihn auch für einen Spinner, wenn er irgendetwas Verfaultes oder Stinkiges ernsthaft zur Kunst erklärte. In meiner Erinnerung gab es eine sehr lange Nachtsitzung, in der Beuys für Rudi Dutschke, mich und andere einen Eintopf in seinem Atelier kochte, und wir dann Rudi überzeugten, dass wir „Grüne“ heißen und nicht einen inhaltlichen Namen wählen sollten, etwa „ökologisch“. Rudi konnte sich nicht vorstellen, dass eine Partei mit Farbennamen funktioniert. Daraufhin erklärte Beuys uns Goethes Farbenlehre, er hielt uns einen Vortrag von einer halben Stunde. Ich habe ihn für sein Wissen bewundert. Er war aber auch praktisch, hat die Freie Internationale Universität mitbegründet...

Die FIU, am 27. April 1973 im Düsseldorfer Atelier von Joseph Beuys gegründet, war ja als organisatorischer Ort des Forschens, Arbeitens und Kommunizierens gedacht, um die Fragen einer sozialen Zukunft zu durchdenken und als freie Hochschule das Schul- und Bildungssystem zu ergänzen...

Ja, Heinrich Böll war auch dabei, Rudi Dutschke, ich und andere waren Mitglieder formell, informell. Für uns war das eine Stärkung, wenn uns Leute wie Böll unterstützen, die den Literaturnobelpreis hatten und deren Werk man auch persönlich achtete. Aber in unseren Kreisen wurde er auch angefeindet. Ich habe Böll im Zuge der Arbeit, die ich im politischen Exil und mehr und mehr in der deutschen Innenpolitik getan habe, auch persönlich als einen guten Menschen kennengelernt. Wenn ich mich richtig erinnere, schmuggelten er und Annemarie Böll schon vor 68 Leute in einem alten Citroen aus der Tschechoslowakei. Das lässt sich überprüfen, weil es eine Dokumentation der Heinrich-Böll-Stiftung gibt. 1979 haben nicht nur er, sondern auch Annemarie und weitere Familienmitglieder wie der René und der Viktor Böll den Böll-Aufruf für die Europa-Grünen unterschrieben.

Ich fasse zusammen, bisher hast Du vom Achberger Kreis, Beuys und der FIU und Böll erzählt - das sind alles Pfade, die ab 1976/77 in die Wahlbewegung für eine Beteiligung an der Europawahl münden und schließlich zu den Grünen hinführen.

Ja, wir begannen die Organisationsfrage zu diskutieren, ob es eine neue Partei links der SPD geben sollte. Denn links der SPD gab es entweder die DKP oder anarchistische, trotzkistische, maoistische Parteiengruppierungen und -splitter, aber keine alternative Partei, allerdings eine Vielzahl an Bürgerinitiativen gegen Atomkraft und natürlich die Frauen- und Friedensbewegung.

Ich habe die Teilnehmerliste des Gründungstreffens der Grünen Wählerinitiative für Demokratie und Umweltschutz im März 1978 angesehen. Du hast bei dem ersten Treffen unter Organisation „Europa-Grüne“ eingetragen. Soweit ich weiß, gab es die damals noch gar nicht, weil die Europa-Grünen erst ein Dreivierteljahr später gegründet werden. Das hat mich immer verwundert.

Ich weiß nicht mehr die Details. Die erste Europawahl sollte schon 1978 stattfinden und hatte sich dann um ein Jahr verschoben. Spätestens ab 1975 waren wir in der Vorbereitung der Grünen, wenn nicht sogar früher. Im Sommer 77 liefen bereits konkrete Gespräche mit Leuten. Und ich weiß, dass wir bei der Documenta 77 in Kassel mit Beuys, Heinz Brandt, Rudi Dutschke und anderen schon über die Kandidatur für die Europawahl diskutierten.

Wer war noch dabei?

Die Leute, die damals bei der Freien Internationalen Universität waren, in der Böll und Beuys organisiert waren, stellten sozusagen die Älteren. Die Jüngeren waren Dutschke und andere – da gibt’s sicher auch Dokumente darüber, wer die treibenden Mitglieder waren. Wir trafen uns mehrmals bei Beuys in seinem Atelier in Düsseldorf, aber auch anderswo.

Beuys hat 1979 auf Platz 5 für die Europawahl kandidiert und Du warst sein Ersatzkandidat. Spitzenkandidatin wurde dann Petra Kelly, die im selben Jahr aus der SPD ausgetreten war. Auf Platz 2 stand Roland Vogt. Wo hast Du Petra und Roland, die beim Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) und bei den Jungen Europäischen Föderalisten eine wichtige Rolle spielten, das erste Mal kennengelernt?

Da gab es verschiedene Begegnungen damals, in Troisdorf, in Vlotho, in Darmstadt, in Nürnberg, in Frankfurt. Das alles fließt irgendwann zusammen. Es ist jetzt 35 Jahre her und überlagert durch tausende von Begegnungen und Konferenzen. Ich kann nur sagen, dass ich den Kontakt zu Roland wie auch den zu Dutschke, Beuys und Böll bewusst selbst gesucht hatte. Sie waren für mich schon ein Begriff, bevor ich sie traf. Nur Petra war für mich kein Begriff, bevor ich sie kennenlernte. Ich weiß nur, dass ich sie mehr als SPDlerin wahrnahm. Aber das war kein Makel, weil ich zu der Zeit zum Beispiel auch sehr eng mit Ottmar Schreiner zusammenarbeitete. Ich wurde ja regelmäßig zu den Bundeskongressen der Jusos eingeladen.

Im Bürgerhaus im Frankfurter Stadtteil Sindlingen kam es dann im März 1979 zur Gründung der Europa-Grünen…

An was ich mich wie heute erinnere, ist der Auftritt von Ossip Flechtheim: Ein älterer Professor kommt zum Mikrofon, hat die Frankfurter Rundschau dabei, zitiert aus der etwas und entwickelt eine schlüssige Begründung, warum wir als Grüne kandidieren sollen. Ich war damals so beeindruckt von Flechtheim. Ich habe mich als jung, unerfahren und ungebildet gefühlt gegenüber so einem Mann. Aber ich habe aus dem, was er gesagt hat, auch Stärke und Unterstützung gezogen.

Was ich unbestimmt und unfertig im Kopf hatte, was vom Prager Frühling mitbekommen hatte, hat sich in dieser Rede bestätigt. Flechtheim hatte mich schon früher überrascht. Ich hatte ihn in Achberg 1973 erlebt, in der Küche, wie er mitgeholfen hat, weil das selbstverständlich war, dass auch Männer in der Küche mitgeholfen haben. Aber umgekehrt habe ich mich in Achberg ein bisschen gedrückt, wenn man auf der Wiese mit nackten Füßen getanzt hat. Achberg, anthroposophisch…

… da kann man das Programm tanzen.

Ja.

Das in Frankfurt gegründete Listenbündnis, die SPV Die Grünen, erreichte bei der Europawahl im Juni dann aber nur 3,2 Prozent und verfehlte so den Einzug…

Trotzdem war diese Art von Niederlage keine Niederlage in eigentlichem Sinne. Es war im Grunde ein stetiger langsamer Aufstieg prozentual. Anfang Dezember 1979 war ich mit Rudi Dutschke im Internationalen Kongresszentrum in Berlin, wo die SPD ihren Bundesparteitag zum Nato-Doppelbeschluss abhielt. Wir saßen auf der Zuschauertribüne mit Rudi Dutschke und Herbert Gruhl, und gaben dann eine Pressemitteilung heraus: „Wenn die SPD nachrüsten will, werden die Grünen eine neue Partei gründen.“

Einen Monat vorher hatte ja in Offenbach die zweite Versammlung der SPV Die Grünen stattgefunden, auf der die rund 1000 Delegierten beschlossen, ihre Vereinigung im Januar 1980 in eine Partei umzuwandeln. Du hast dich dann für die Frankfurter Grünen engagiert. Bei der Kommunalwahl 1981 wirst Du Stadtverordneter und Ortsbeirat.

Bei der Wahl im Frühjahr 81wurde ich ins Stadtparlament gewählt, ich erinnere mich genau daran. Es war seltsam, dass die Leute, mit denen ich bisher in Frankfurt zusammengearbeitet hatte – etwa Ottmar Schreiner und Armin Kleist – plötzlich meine Konkurrenten waren. Klaus Staeck schrieb mir sogar eine Postkarte, in der er mir die Freundschaft kündigte.

Damals haben die Spontis in Frankfurt einen Rückzieher gemacht und keine Kandidaten aufgestellt...

Ohne mich zu brüsten, dabei ist sehr viel auf mich zurückgegangen. Ich habe mich gegen die Beteiligung von KB-Leuten gesperrt, worauf die Spontis ihre Kandidaten zurückgezogen haben.

Dazu fällt mir die Geschichte mit der Karl-Marx-Buchhandlung ein. Ich lebte quasi vis-à-vis der Buchhandlung und Joschka hatte da sein Antiquariat. Daniel Cohn-Bendit war dort auch Mitgesellschafter, glaube ich. Jedenfalls ging ich regelmäßig dort vorbei, um sie anzuwerben den Grünen beizutreten. Sie haben mich immer verjagt, immer höflich. Sie kannten mich, wussten dass ich kein irrer Vogel bin. Aber Joschka, der einen Hund hatte, sagte immer zum Spaß: „Dagobert, - so hieß der Hund - fass ihn! Der will mich verführen."

Im Spätherbst 81 war ich schon ein halbes Jahr Stadtverordneter, und Joschka trat bei einer großen Versammlung in Frankfurt auf und beschimpfte mich als „verkommenen Parlamentarier“. Das ist irgendwo in „Links“ oder anderswo belegt. Dafür bin ich ihm bis heute dankbar. Sein Parteieintritt muss im Dezember 82 gewesen sein. Er kam und hat uns gleich links und rechts überholt, weil er forderte, mit der SPD eine richtige Koalition einzugehen. Wir traten damals nur für eine Duldung der SPD in Hessen ein.

Zum Hintergrund muss man eins sagen: In Niedersachsen ging die SPD bereits 1981 mit einer rot-grünen Koalitionsaussage in den Landtagswahlkampf...

Wir in Hessen waren 1981 zum Erschrecken der SPD-Fraktion eine sehr rigorose fundamentalistische Opposition gegen alles Etablierte. Wir sind, weiß gekleidet mit Gasmasken, zur Eröffnungssitzung in den Römer einmarschiert, sechs Leute. In unseren Büros neben dem Plenarsaal zogen wir uns weiße Kittel oder Overalls an und beim Klingeln marschierten wir so um 16 Uhr in den Plenarsaal und zu unseren Plätzen. Alle haben uns angestarrt. Abends im Fernsehen und am nächsten Tag in den Medien war dann von der ersten Rede eines Grünen überhaupt im Frankfurter Parlament zu hören.

Welche Position nahmst Du im Streit zwischen Realos und Fundis ein?

Ich würde sagen, in einigen Positionen waren wir nach wie vor fundamentalistisch, aber nicht mehr nur utopistisch. Böll, der 1985 viel zu früh starb, hat uns beeinflusst. Er bildete eine gewisse Garantie für eine intellektuelle und auch solide Position, die immer mehr realpolitisch wurde – nicht ganz Joschka-Position, aber auch nicht mehr Petra-Kelly-Position. In Hessen bildete sich so ein Zwischending zwischen Realos und Fundis heraus, wo wir uns manchmal auch nicht ganz wiederfanden, aber faktisch eigentlich standen.

Du warst bis 1983 Stadtverordneter, bei der Bundestagswahl im selben Jahr hattest Du Platz 4 auf der Landesliste zur Bundestagswahl inne. Auf Platz 3 vor Dir war Joschka Fischer, nur die ersten drei kamen rein. Wie wurdest Du dann doch Bundestagsabgeordneter, als Nachrücker?

Ich bin nach der Busen-Grabscher-Affaire im August 1983 nachgerückt.

Du hast Dich sofort für den Auswärtigen Ausschuss gemeldet, warum?

Ich bin Ausländer...

Aber es ist nicht Ausländerbeirat...

Natürlich nicht, aber die kommunistisch beeinflusste Welt und das Thema Osteuropa waren im Auswärtigen Ausschuss angesiedelt, sowie auch der Bereich Menschenrechte. Durch meine Vorgeschichte interessierte und orientierte ich mich natürlich daran, was 1980/81 in Osteuropa passierte, Solidarność, Standrecht, daran, was Jaruzelski machte. Ich war zum Beispiel der einzige, der das Abzeichen von Solidarność bei jedem Auftritt im Bundestag trug.

Die Osteuropapolitik der Bundestagsfraktion zu dieser Zeit beschäftigt uns gerade. Warst Du mit Deiner Haltung nicht ständig in Konflikt mit dem Rest der Fraktion?

Doch, wir lagen ständig im Clinch. Es gab nur ein paar Leute, die einigermaßen auf meiner Linie waren, Uli Fischer, der mein Nachrücker wurde, dann Petra Kelly. Sie hatte ein universales Menschenrechtsverständnis. Es umfasste ebenso lateinamerikanische, chilenische oder afrikanische Unterdrückte wie den Dalai Lama und osteuropäische Unterdrückte. Es gibt Akten der tschechischen Stasi über mich. Laut ihnen gehörte ich damals zu den zehn Leuten, die für die damalige Führung sehr gefährlich galten und die sie, unter Umständen, sogar bereit waren zu eliminieren. Das nur am Rande.

Noch mal zur Fraktion, zu den ganz normalen Menschen: Da gab es aber eine kleine Arbeitsgruppe, die beim Thema Osteuropa zusammenarbeitete.

Ja, dazu gehörte der Pressesprecher Heinz Suhr, Lukas Beckmann, Elisabeth Weber und teilweise Otto Schily. Erst nach und nach verstanden die anderen, was das Gefährliche an den Regimen dort und der Exilarbeit hier war. Später hat mir ein ungarischer Botschaftsrat verraten, dass in den fünf osteuropäischen Botschaften, also von der DDR, Polen, Tschechoslowakei, Bulgarien, Ungarn und Sowjetunion, eine Arbeitsgruppe gebildet wurde, die fünf plus eins, die die Fragestellung klären sollte: Was machen wir mit den Grünen? Und was machen wir mit Horáček? Für die war das ein Problem, dass einer ihrer ärgsten Exilleute plötzlich Bundestagsabgeordneter wurde. Die Grünen waren für sie ein neues Phänomen, eine neue Fraktion, nicht berechenbar, aber friedenspolitisch auch interessant für sie. Deshalb bekamen wir auch eine Einladung von den Sowjets, gleich im Herbst 83 nach Moskau zu kommen.

Waren das nicht gemeinsame Delegationen von Partei und Fraktion, und zwar erst nach Washington und dann nach Moskau?

Ja, die Auseinandersetzung, teilnehmen oder nicht teilnehmen, haben lange gedauert. Ich weiß noch, dass wir um den 30. Oktober 1983 nach Moskau fuhren, weil ich meinen Geburtstag bei den Töchtern Lew Kopelews gefeiert habe wo wir Medikamente und Bücher übergaben. Diese persönlichen Treffen waren wichtig. Es musste auch nichts Großartiges besprochen werden. Es ging eher darum, zu zeigen, ihr seid nicht allein, trotz aller Bedrohungen, die es damals noch gab. Es war schwer, russische Dissidenten zu besuchen. Wir wurden natürlich Tag und Nacht überwacht. Unsere Bewacher kontrollierten sogar unsere Hotelzimmer. Uns gelang es aber an einem Abend, aus dem Bolschoi-Theater wegzukommen. 1985 war dann schon Gorbatschow da.

Wie kam es, dass Du im Februar 1986 an dem Gefangenenaustausch zwischen dem im Osten inhaftierten Dissidenten Schtscharanski und Javorský und zwei anderen gegen fünf Häftlinge aus dem Westen beteiligt warst?

An dem Austausch wurde ich schon seit 83, seit ich im Bundestag war, beteiligt. Ich habe mich für Jaroslav Javorský eingesetzt, sowohl bei den bundesrepublikanischen Spitzenpolitikern wie auch über die Menschenrechtskonferenz in Ottawa und über das State Department. Am Ende wurden dann Anatoli Schtscharanski und Jaroslav Javorský an der Glienecker Brücke ausgetauscht.

Wie standst Du zu Gorbatschow?

Positiv. Ich habe über Dubćeks Generalsekretär der KP Zdenek Mlynár vieles über Gorbatschow erfahren. Sie hatten zusammen studiert und waren befreundet.

1988 hast Du Helmut Kohl auf seiner Reise in die ČSSR begleitet…

Bei der ersten Kanzlerreise nach Prag war ich trotz verschiedener Schwierigkeiten, die im Vorfeld beseitigt werden mussten, dabei. In die anderen Länder wie Polen, Ungarn, Bulgarien, Sowjetunion bin ich mit grünen Delegationsreisen dabei gewesen, wo wir uns über Fragen der Menschenrechte, das politische System, Ökonomie usw. unterhielten. In der ČSSR wollten sie mich nicht akzeptieren.

Damals gab es schon Lockerungen und die ersten Demonstrationen gingen los...

Rückblickend kann man jetzt sagen: Nach 1985-86, nachdem Gorbatschow in Russland mit Perestroika und Glasnost begann, ging es relativ schnell. Die anderen osteuropäischen Länder hatten sich schon mit den Ideen auseinandergesetzt und sie reflektiert. Relativ frei waren damals die Ungarn, auch im Umgang mit der Ausreise, sowie die Polen. Dort kam im August 1989 - noch vor dem Fall der Mauer - bereits Tadeusz Mazowiecki an die Regierung, der erste Ministerpräsident nach dem Zweiten Weltkrieg, der nicht der kommunistischen Partei angehörte.

Ende 1989 konntest Du zum ersten Mal wieder legal als Privatperson in die CSSR einreisen und triffst Václav Havel. Wie gut kanntet Ihr Euch da schon?

Das ist eine einfache und komplizierte Geschichte zugleich. Das erste Mal kam ich quasi mit einem Sondervisum wieder nach Prag, wo ich Havel in seiner Wohnung begegnete. Anfang 88 war ich dann mit Kohl noch mal da, und im Mai 89 das dritte Mal mit einem Spezialvisum bei einer Umwelt- und Friedenskonferenz. Offiziell war ich ja seit den 70er Jahren durch den Innenminister persönlich ausgebürgert und als „Feind des sozialistischen Lagers“ definiert. Über die ganzen Jahre telefonierte ich aber regelmäßig mit Havel – wenn es ging. Ich rief immer verschiedene Telefonnummern an, die ich hatte. Ich konnte Havel entweder direkt erreichen oder über seinen Bruder.

Der Bruder erzählte mir später, dass sich Havel öfter beschwerte, zu keiner Arbeit zu kommen, weil wir immer stundenlang telefonierten. Ich fragte ihn: „Was gibt’s Neues, was macht ihr denn?“ Und er erzählte mir, was er wollte, obwohl wir wussten, dass die tschechoslowakische Stasi alles aufnahm. Ich gab dann die wichtigen Informationen an mehrere Kanäle weiter, und am Abend wurde das in Radio Free Europe oder in der Stimme Amerikas oder der BBC gemeldet. Und ich habe mit unseren wichtigsten Leuten in Rom, Brüssel, Stockholm und London telefoniert. Wir standen also in ständigem Kontakt, eine Verbindung, die bis 89 gehalten hat. Als ich Ende 89 ankam, wurde ich sofort vom Flughafen in das Hauptbüro der Samtenen Revolution gebracht.

Inwiefern?

Die tatsächliche Macht war schon in Zersetzung, die Geheimdienste kontrollierten und beobachteten zwar noch, aber Havel war mächtig genug, mich ohne gültigen Pass und Visum reinzubringen. Ich bekam einen speziellen Sonderstempel. Am nächsten Tag empfing mich Havel zu Hause – im Bademantel. Davon gibt es eine Video- Aufnahme. Am 29. Dezember 1989 wurde Havel dann Präsident, am 1. Januar hielt er seine Neujahrsrede, das war ein Ereignis. Mehr als die Hälfte der Nation saß an den TV-Geräten. Und er fing an: „Unser Land erblüht nicht….“ Endlich redete mal einer Tacheles.

Er hat sich nicht gescheut, die Wahrheit auszusprechen. Und am 2. Januar habe ich ihn bei seinem ersten Auslandsbesuch in Ostberlin und München bei den Führungen der beiden deutschen Staaten begleitet. Havel hat mich in einen Beraterstab berufen, dessen Vorsitzender Fürst Schwarzenberg war, und wir haben gleich die Einladungen an den Dalai Lama und den Papst vorbereitet.

Wie siehst Du die Entwicklung, die Tschechien heute genommen hat?

Havel war einer der letzten Dissidenten, die ein Amt inne hatten, leider aber mit wenig Einfluss. In den Regierungen, die folgten, in den Ministerien, in den Institutionen saßen dann Leute, die ich kaum achten konnte. Mein Eindruck war, dass die Tschechische Republik schon bald in die schlimmsten Formen der Selbst- und Fremdausbeutung reinschlitterte. Die Situation von uns exilierten Tschechoslowaken, die wir nach Jahrzehnten zurück konnten, war nicht einfach. Man merkte, man ist nicht mehr zu Hause, weil die Schere zwischen unserer Lebensweise, unserem Verständnis von politischer Kultur und Demokratie inzwischen so weit auseinanderklaffte zu dem, was wir vorfanden.

Du bleibst bis Ende 1990 Mitarbeiter der Fraktion und warst an der Gründung der Böll-Stiftung beteiligt. Für die Stiftung gehst Du als Leiter des Büros nach Prag.

An dem symbolischen Tag des 21. August 1990 haben wir das Büro der Böll-Stiftung in Prag eröffnet. Den absolut größten Verdienst bei der Gründung der hbs hatte Lukas Beckmann gehabt. Wir teilten dieselben Ideen, zum Beispiel in der Diskussion, ob - ähnlich wie Ebert- oder Adenauerstiftung – ein richtiger Parteiname genommen werden soll. Heinrich Böll war ja nie Mitglied der Grünen, deswegen verwehrten sich einige Leute gegen diesen Namen und wollten lieber Petra Kelly als Namenspatronin.

Aber Ihr hieltet dagegen...

...warum? Trotz aller Verdienste von Petra Kelly, die auch international bekannt war, hatte Heinrich Böll gesamtgesellschaftlich gesehen mehr Gewicht - nicht nur als Begriff und Name, sondern als Vertreter von etwas, das sich nicht auf einen anthroposophischen, maoistischen, anarchistischen, trotzkistischen oder Dritten Weg oder auf eine linke oder eine links neben der SPD-Position verengt. Er stand für etwas Eigenständiges - all das manifestiert sich im Namen Böll mit seiner, teilweise auch widersprüchlichen Geschichte. Böll war eine Person, die in vollem Bewusstsein des 20. Jahrhunderts mit allen diesen Verbrechen gelebt hat, eine, die sagte: „Alles, was wir Schlimmes getan haben, müssen wir - soweit es geht - abarbeiten. Und dieses „Einmischung erwünscht“ von Böll macht auch die Stiftung aus.

Der Initiativkreis zur Gründung der Heinrich-Böll-Stiftung war ja sehr breit.

Es waren nicht nur Grüne dabei, sondern auch SPD-nahe und sogar Liberal-Konservative, die das Erbe von Heinrich Böll unterstützten und Bölls Verbundenheit mit den Grünen anerkannten. Sie waren bei der Gründung entweder physisch dabei, unterschrieben oder unterstützten die Stiftung sogar mit Geld.

Du wirst der Leiter des hbs-Büros in Prag.

Ja, ich ging 1991 nach Prag in die Böll-Stiftung und wurde 1998 für fast zwei Jahre Leiter der Repräsentanz der Böll-Stiftung in Bonn. Damals waren in Bonn noch immer Regierung und Parlament ansässig. Im Frühjahr 98, vor der Bundestagswahl im Herbst, gab es auf einer Realo-Sitzung in den Fraktionsräumen am Tulpenfeld eine Diskussion über den Nato-Beitritt von Polen, Ungarn und Tschechien und wie sich die Grünen dazu verhalten. Die einen waren pro, die anderen kontra. Am Ende meinte Joschka Fischer, ich verkürze jetzt sehr stark, in etwa: „Dann müssen wir uns enthalten.“ Da sagte ich zu ihm: „Das könnt Ihr so machen, aber wenn Joschka jemals deutscher Außenminister werden will, muss er sich begründet für Ja oder Nein entscheiden.“ Es gab ein paar Sekunden absolute Stille. Joschka brummelte etwas Unverständliches vor sich hin. Die Grünen haben dann dem Beitritt zugestimmt. Im Herbst 98 wurden sie Teil der rot-grünen Koalition. Aber das ist jetzt wieder ein anderes Kapitel in der Geschichte der Grünen.

Vor allem wirst Du selbst 2004 noch Europaabgeordneter in Brüssel. Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen. Ich sehe ein, dass wir noch ein zweites Gespräch werden führen müssen.

Das Interview haben Christoph Becker-Schaum, Robert Camp und Eva Sander am 29.4. und 2.6.2014 geführt. Der Text wurde von Tina Hüttl redaktionell bearbeitet.